Dass ihr Kind gut mit Gleichaltrigen klarkommt, dass es Freunde findet und zu Geburtstagsfeiern eingeladen wird – das wünschen sich alle Eltern. Bei Kindern mit Hörverlust ist die Ausbildung der sozialen Kompetenzen, die sie brauchen, um sich in Schule und Freizeit zu integrieren, jedoch oft verzögert.
„Unser Grundgedanke ist, dass Kinder mit Hörverlust aufgrund ihrer auditiv-verbalen Voraussetzungen eher an eine Lernsituation wie im Einzelunterricht gewöhnt sind. Mit Erwachsenen können sie sehr gut kommunizieren. Sie sind aber nicht daran gewöhnt, gemeinsam mit normal hörenden Kindern an der Lösung eines Problems zu arbeiten“, erklärt Dr. Anne Fulcher, eine australische Expertin für Hören und gesprochene Sprache.
„Aufgrund ihres Hörverlusts wachsen sie in einer Art ,Hörblase‘ auf. Das macht es schwierig, sich in lauten Umgebungen oder auf Entfernung mit Freunden und Familie zu unterhalten“, fährt sie fort.
Dr. Fulcher arbeitet seit mehr als 40 Jahren mit dem Shepherd Centre zusammen, einer gemeinnützigen australischen Organisation, die Kinder mit Hörverlust und deren Familien unterstützt. Entsprechend viel Erfahrung hat Fulcher gesammelt.
„Obwohl die Sprachkenntnisse ihrer Kinder oft erstaunlich gut sind, machten sich einige Eltern Sorgen wegen des Freundeskreises [ihres Kindes] oder weil sie nicht zu Partys eingeladen werden. Parallel dazu deuteten die Forschungsergebnisse des Shepherd Centre darauf hin, dass Kinder mit Hörverlust in ihren sozialen Kompetenzen häufig nicht so weit waren wie gleichaltrige Normalhörende.“
Wie kommt es dazu?
Laut Dr. Fulcher verbringen Kinder mit Hörverlust in der Hörtherapie oft viel Zeit mit einem einzelnen Erwachsenen oder aber mit anderen Kindern, denen es so geht wie ihnen. Dadurch haben sie weniger Gelegenheit, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen.
Darüber hinaus bedienen sich Eltern in der Kommunikation mit ihrem Kind oft einer zu stark vereinfachten Ausdrucksweise. Sie verwenden vor allem einzelne, einfache Wörter, sodass das Kind im Elternhaus wenig komplexer Sprache ausgesetzt ist. Manche Eltern neigen auch dazu, ihr Kind zu sehr zu behüten, indem sie den Kontakt zu normal hörenden Kindern meiden oder für ihr Kind antworten, wenn es angesprochen wird.
Dadurch fehlt den Kindern eine weitere Dimension des Hörens bzw. Sprechens, die Dr. Fulcher eine „unsichtbare Sprache“ nennt. Das kann dazu führen, dass sich die soziale Entwicklung verzögert.
Da sie im Alltag unter Umständen nicht ausreichend Kontakt zu normal hörenden Gleichaltrigen haben, fehlen ihnen wichtige Informationen zum Umgang miteinander, die nonverbal, durch Körpersprache, Tonfall und Gruppenspiele vermittelt werden.
„So wie die auditive/verbale Therapie notwendig ist, um die Sprachkompetenz und Hörfähigkeit auszubilden“, erklärt Dr. Fulcher, „so müssen auch soziale Kompetenzen vermittelt werden.“
Tipps für einen erfolgreichen Start
Im Folgenden gibt Dr. Fulcher einige Tipps, wie Sie Ihrem Kind gezielt helfen können, sich sozial zu integrieren.
1. Erweitern Sie den Sozialraum Ihres Kindes
Ihr Kind sollte nicht nur Kinder mit Hörverlust treffen. Es ist wichtig, dass Sie Ihrem Kind helfen, Hobbys zu finden bzw. Dinge zu unternehmen, bei denen es insbesondere auch normal hörende Kinder kennenlernt. So können sie sich austauschen und voneinander lernen.
Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, Kontakt zu Menschen jeden Alters und in verschiedenen Umgebungen zu haben. So lernt es, die Körpersprache zu verstehen und kann ausserdem seine Problemlösungskompetenz schulen.
„Um sich sozial gut integrieren können, müssen die Kinder ausserhalb der bekannten, ruhigen Lernumgebung auf Gleichaltrige treffen“, so Dr. Fulcher. „Das bringt ihnen unglaublich viel.“
„Eine Möglichkeit, Ihr Kind zu unterstützen, könnte sein, Situationen herbeizuführen, in denen es gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von normal hörenden Kindern ein Problem lösen muss – zum Beispiel bei einem taktischen Brettspiel.“
2. Sprechen Sie über Gesprächssituationen und die Regeln des sozialen Miteinanders
„Egal, wie viel Mühe sie sich beim Hören geben und wie toll sie sind – Kinder mit Hörverlust sind immer etwas im Nachteil, vor allem in einer grossen, lauten Gruppe“, so Dr. Fulcher. „Erklären Sie Ihrem Kind, worauf es achten soll, z. B. wann es in Ordnung ist, jemanden beim Sprechen zu unterbrechen, oder wann man sich abwechseln oder etwas teilen sollte.“
Sprechen Sie auch darüber, was Körpersprache und Tonfall über die Gefühle eines Menschen aussagen. Dies hilft den Kindern zu verstehen, dass Kommunikation auf mehreren Ebenen stattfindet. Sie können Ihr Kind auch auf Situationen in einer Gruppe von Kindern vorbereiten, indem sie das Sichabwechseln üben und Rollenspiele spielen.
Helfen Sie Ihrem Kind, unsichtbare Sprache zu verstehen, indem Sie Gefühle und körpersprachliche Ausdrücke benennen. Zum Beispiel: „Sieh dir mal Jane an. Sie sieht traurig aus. Ich frage mich, warum sie traurig ist?“
Auf dieselbe Weise können Sie Ihr Kind bei einem Rollenspiel auffordern, Ihre Mimik zu interpretieren und nachzuahmen. Das hilft ihm, Körpersprache und Gesichtsausdrücke richtig zu deuten. Sehr nützlich, so Dr. Fulcher, können dabei Hilfsmittel wie bestimmte Brettspiele und Apps sein.
3. Behandeln Sie ein Kind mit Hörverlust genau wie jedes andere
Vermeiden Sie es, im Gespräch mit Ihrem Kind nur einzelne Wörter oder einfache Sätze zu verwenden. „Stattdessen sollten Sie möglichst viel mit ihm sprechen, genau wie mit einem normal hörenden Kind. Umgeben Sie Ihr Kind mit Sprache, mit schönen, ausschmückenden Worten“, rät Dr. Fulcher.
Sprechen Sie im Alltag möglichst viel mit Ihrem Kind: über das, was passiert, über Ihre Entscheidungen und mögliche Alternativen.
4. Es ist nie zu früh oder zu spät
Die soziale Kompetenz entwickelt sich sehr früh bei Kindern, daher ist es nie zu früh, das Thema anzugehen. Mit ganz einfachen Dingen – wie gemeinsam singen, sich abwechseln, die Gesten und Laute des Kindes nachahmen – können sie sich aufeinander einspielen und ins „Gespräch“ kommen. Wenn Ihr Kind älter ist und einiges im Umgang mit anderen noch nicht gelernt hat, ist es nie zu spät, ihm dabei zu helfen, es jetzt zu erlernen. Wenn Ihnen etwas auffällt, was besser hätte laufen können, warten Sie den richtigen Moment ab und geben Sie Ihrem Kind dann konstruktive Tipps und konkrete Ratschläge. Erklären Sie ihm, was es an „unsichtbarer Sprache“ übersehen hat bzw. wie es sich stattdessen hätte verhalten können. Es gibt immer wieder neue Dinge an uns selbst zu entdecken. Es ist wichtig, dass Sie Ihr Kind dabei konstruktiv unterstützen.